Digitale Helfer im Lager
19.08.2021 by Ümit Günes
Wir sind zwar im Zeitalter der Digitalisierung angekommen, doch in vielen Fällen bedeutet Lagerwesen auch heute noch Papierkram. Das ist nicht nur altmodisch, sondern ebenso unpraktisch. Es beginnt schon mit dem Eintreffen der Ware im Lager: Papieretiketten auf Kartons oder Palettenfolien lösen sich ab oder verschmutzen leicht und sind dann unlesbar. Auch Lieferzettel an der Palette gehen immer wieder beim Transport verloren. Die Folge sind falsche oder fehlende Informationen zur Lieferung – und am Ende womöglich der Supergau des Versandhandels (zumindest aus Sicht der Kunden), nämlich die verspätete Zustellung.
Die Lösung ist ein digitales Label oder Frachtpapier. Auf seinem kleinen Display zeigt es stets aktuell alle Informationen wie Absender, Inhalt und designierten Lagerplatz. Auf einem großen Betriebsgelände lassen sich Geofences einrichten – und die Anzeige wechselt, sobald eine Palette zum Beispiel von der Produktion ins Lager gefahren wird. Ausgestattet mit einem Erschütterungssensor, zeigt das Gerät zudem einen Warnhinweis an, wenn etwa eine Palette vom Stapler gefallen ist. So gelangt beschädigte Ware erst gar nicht ins Lager und die Produktion. Die Mitarbeitenden sind stets über Absender, Zustand und designierten Lagerplatz einer Lieferung informiert und müssen sich nicht mehr mit Papierkram herumschlagen.
Beim Kommissionieren oder „Picken“, also dem Zusammenstellen einer Lieferung aus unterschiedlichen Artikeln, helfen vernetzte, mobile Geräte wie Scanner und Datenbrillen oder -handschuhe, die per WLAN oder Mobilfunk direkt mit dem Lagersystem verbunden sind. Eine technologische Erweiterung des menschlichen Körpers sozusagen – noch nicht auf RoboCop-Niveau, aber dennoch ausgereift genug, um den Arbeitsalltag zu verbessern. Das ergonomische Design moderner Geräte entlastet Mitarbeitende zudem bei ermüdenden, sich wiederholenden Routinetätigkeiten.
Eine ewige Achillesverse des Menschen ist sein nicht immer einwandfrei funktionierendes Gedächtnis. Kombiniert mit einem etwas schwach ausgeprägten Ordnungssinn und langwierige Suchaktionen sind an der Tagesordnung. In der Logistik hilft hier wieder moderne Technologie. Sind alle Waren in einem Lager vernetzt, lassen sie sich mit einer Indoor-Tracking-Lösung schnell auffinden. So hat die Deutsche Post DHL Group 250.000 Gitterwagen mit Trackingsensoren bestückt. Über ein Webportal lässt sich stets nachverfolgen, wo welcher Wagen gerade steht. Geht ein Artikel zur Neige, reicht ein Klick auf einen digitalen Serviceknopf und die Ware wird aufgefüllt. Beim Kommissionieren werden zwei Modelle unterschieden: „Ware-zum-Mann“ (oder zur Frau) und „Mann-zur-Ware“. Zwei durchaus programmatische Begriffe, die in der Logistik aber gängig sind.
So vielfältig wie die zu pickende Ware sind auch die vernetzten Lösungen, die die Angestellten beim Zusammenstellen einer Bestellung unterstützen sollen. Einige Konzepte haben sich im Lagerwesen inzwischen etabliert:
Pick-by-Scan
Moderne Handscanner für die Kommissionierung haben mittlerweile einen Funktionsumfang wie ein Smartphone. Die Geräte können Versandetiketten erfassen, die mit verschiedenen QR- und Barcodes, Kontrollkästen, Piktogrammen oder Text bedruckt sind. Vollständig digitale Formulare füllen sie automatisch mit einem einzigen Scan aus, ein sekundenschneller und fehlerfreier Vorgang. Der Scan einer Ware und ihres Lagerstandorts sorgt für eine präzise Bestandsführung in Echtzeit. Über die Sprachfunktion des Scanners können Nutzer die Lagerverwaltung zum Beispiel über fehlende oder beschädigte Ware informieren. Neben dem klassischen Scangerät sind auch Modelle verfügbar, die sich an einem Handschuh befestigen lassen.
Pick-by-Voice
Siri und Alexa gibt es auch im Lager – oder jedenfalls Verwandte von ihnen. Über Pick-by-Voice kommuniziert der Kommissionierer mit dem Lagersystem über Sprachbefehle. Das System teilt ihm über sein Headset die Regalnummer sowie Nummer und Anzahl der zu packenden Ware mit. Der Mitarbeiter quittiert die Entnahme mit Schlüsselwörtern, das System verbucht den Vorgang automatisch. Auch diese Arbeitsweise sorgt für nahezu fehlerfreies, in Echtzeit dokumentiertes Kommissionieren.
Pick-by-Vision
Pick-by-Vision funktioniert über eine Augmented-Reality-Brille. Die Pickerin sieht alle nötigen Informationen wie Lagerplatz, Artikelnummer und Entnahmemenge auf dem Display ihrer Datenbrille. Selbst der kürzeste Weg zum Regal lässt sich vom System anzeigen. Bei der Entnahme nutzt die Mitarbeiterin einen Ringscanner, der per Bluetooth mit einem kleinen Computer am Gürtel verbunden ist. Wie beim sprachgesteuerten Kommissionieren hat die Angestellte auch hier die Hände frei. Laut DHL geht das Picking mit Smartglasses um 25 Prozent schneller und 100 Prozent präziser.
Pick-by-Light
Das Lagersystem ist hier mit digitalen Leuchtanzeigen direkt am Regal vernetzt. Scannt der Lagermitarbeiter den Barcode auf seinem Auftragszettel, aktiviert das System die entsprechenden Anzeigen. Sie zeigen auf einem Display an, aus welchem Fach er wie viele Artikel entnehmen muss. Die Entnahme quittiert er per Tastendruck.
Pick-by-Motion
Dieses Verfahren erfasst die Gesten und Greifbewegungen der Pickerin per Kamera. Mit „Daumen hoch“ signalisiert sie beispielsweise, dass sie einen Artikel entnommen hat, „Daumen runter“ bedeutet, dass der Artikel nicht vorrätig ist. Das System erkennt zudem, ob ein Artikel der falschen Charge zugeordnet wird.
Pick-by-Robot
Auch beim Kommissionieren kommen Roboter bereits zum Einsatz. Während der mechanische Kollege beim Modehändler Zalando bislang nur mit Schuhkartons zurechtkommt, ist ihm das Modell von Covariant dank KI-Unterstützung eine Schraubenlänge voraus: 10.000 verschiedene Artikel mit einer Zuverlässigkeit von 99 Prozent aus einer Kiste in einen Karton packen? Für den Roboter kein Problem. Auch das Random Bin Picking, also das Greifen etwa von losen Schrauben aus einer Kiste, beherrschen bereits erste Modelle. Bei DHL in Miami arbeiten Mensch und Sortierroboter Hand in Hand: Der Mensch legt die Artikel auf ein Fließband, der „Dorabot“ sortiert die Produkte in die richtige Kiste ein. Arbeitsteilung im 21. Jahrhundert eben. Beim Packen einer Palette soll Kollege Roboter laut DHL 600 Prozent effizienter sein als sein menschliches Pendant.
Lange Wege von Regal zu Regal sind beim Kommissionieren oft die Regel. Bringen fahrerlose Transportsysteme Ware und Verpackung eigenständig zum Mitarbeiter, entfallen diese Fußmärsche. Das nordrheinwestfälische Unternehmen Fiege Logistik beispielsweise setzt in seinem Lager autonome Kommissionierfahrzeuge ein. Diese Regale auf Rädern, ausgestattet mit 3D-Kameras, Laseroptik und Navigationssystem, suchen im Lager selbsttätig nach den gewünschten Artikeln und stellen so die geforderte Lieferung zusammen. Die Fahrzeuge lassen sich auch für vorbereitende Tätigkeiten nachts oder bei einer Inventur einsetzen.
Bei DHL assistieren selbstfahrende Transportroboter beim Kommissionieren: Sie manövrieren eigenständig von Regal zu Regal und ersparen ihren menschlichen Kolleg*innen so lange Laufwege. Die Picker*innen sehen den Auftrag am Display der Fahrzeuge, legen die Ware in den Transportbehälter und quittieren den Vorgang. Anschließend fährt der Roboter zur nächsten Station. Diese Autonomous Mobile Robots (AMR) können laut DHL Logistics Trend Radar die Produktivität beim Transport von Behältern und Paletten um 50 Prozent erhöhen, beim Picking sogar um 150 Prozent.
Was dem Gastronom der monatliche Kassenbericht, ist dem Lagerangestellten die Inventur – ein langwieriges, kleinteiliges Stück Arbeit. Zum Glück können Roboter helfen (jedenfalls im Lager). Autonome Fahrzeuge oder gar Drohnen erfassen, ausgestattet mit Scannern oder Kameras und Bildverarbeitungssoftware, selbstständig alle Artikel im Lager und aktualisieren per Funk in Echtzeit das Lagerbestandssystem. Ein Campusnetz sorgt dabei für schnelle und sichere Datenverbindungen.
Ein Beispiel aus der Praxis: Ein großer Stahlkonzern musste seine Außenlager bislang mit hohem Personal- und Zeitaufwand manuell inventarisieren. Jetzt erfasst eine Drohne alle Objekte im Flug per Kamera. Eine KI wertet den Videostream anschließend aus: Sie zählt den Bestand, liest Seriennummern automatisch aus und vergleicht die Daten mit denen des Bestandsystems. Bei unleserlichen Nummern benachrichtigt das KI-System einen Mitarbeitenden vor Ort. Die Drohne sucht und findet Waren deutlich schneller als der Mensch. Das beschleunigt den Inventurprozess signifikant. Zudem sinkt das Fehlerrisiko der manuellen Erfassung. Inventarlisten lassen sich automatisch synchronisieren und immer aktuell auf Stand halten. Personalkosten und Zeitaufwand sinken, die Kundschaft kann schneller beliefert werden.